Von der Modebranche in die Bahnhofsmission

Von der Modebranche in die Bahnhofsmission

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Im Mai diesen Jahres war ich das erste Mal mit einem Filmteam* in der Berliner Bahnhofsmission am Zoo.
Alle angestellten und ehrenamtlichen Mitarbeiter versammelten sich zu einer Besprechung um einen großen Tisch. Sie fiel mir sofort auf, als sie den Raum betrat. Shiva Baberowski, eine zierliche, attraktive Frau mit dunkel glänzenden Augen. Ihr Gesicht strahlte freundliche Gelassenheit aus. Solch eine Frau hätte ich wohl eher in einer Boutique als in einer Bahnhofsmission erwartet. Ich wollte mehr über sie wissen, warum sie hier arbeitet.
Es verging einige Zeit, bis wir einen gemeinsam freien Termin fanden, doch nun empfängt Sie mich mit einem freundlichen Lächeln in ihrer geschmackvoll, klar eingerichteten Wohnung. In den Räumen stehen Blumen, die sie selbst kunstvoll arrangierte. Sie scheint etwas verlegen. Ich merke, dass sie nicht gerne im Mittelpunkt steht und bin froh, dass sie einem Interview zugestimmt hat.

Dein Name ist Shiva. Das ist kein deutscher Name. Woher kommst du?

Ich bin im Iran geboren und gehöre einer nationalen Minderheit, den türkischen Aserbaidschanern an. Nordaserbaidschan gehörte früher zur Sowjetunion und ist jetzt eine autonome Republik. Meine Muttersprache ist Aserbaidschanisch und meine zweite Sprache Persisch.

Wie lange lebst du schon in Deutschland?

Seit etwa 30 Jahren. Davor war ich mit Unterbrechungen im Iran und in Amerika. Ich kam nach Deutschland, um hier zu studieren. Im Iran war mir das damals nicht möglich.

Was hast du studiert?

Ich wollte Architektur oder Design studieren. Aber der Zufall wollte es, dass ich meinen Mann kennen lernte. Er studierte zu der Zeit in Göttingen. Für mein Studium hätte ich in eine andere Stadt gehen müssen. Das wollte ich nicht. Darum habe ich mit Mathematik und Anglistik angefangen. In der Schule mochte ich Mathematik, aber nach einem Semester stellte ich fest, dass es nicht meine Sache ist und wechselte zu den Wirtschaftswissenschaften. Das Studium schloss ich dann auch ab.

Wie ging es nach dem Studium beruflich weiter?

Ich habe in der Modebranche gearbeitet. Das ergab sich ganz zufällig.
Ich ging in ein Geschäft, um Schuhe für meinen Mann zu kaufen. Die Geschäftsführerin bewunderte meine Kleidung und fragte nach der Marke. Ich sagte, dass ich die Sachen selbst genäht hätte, dass ich Hobbyschneiderin sei. Sie war begeistert und bot mir an, bei Ihr zu arbeiten. Nach einem Termin bei ihrem Bruder, dem die Bekleidungsfirma gehörte, wurde ich eingestellt. Es wäre mir nie eingefallen, in einem Modeunternehmen zu arbeiten. Ich hatte mich bei diversen Banken und Behörden beworben. In der Modebrache brauchte man eigentlich immer Zertifikate, Abschlüsse von einer Modeschule. Umso glücklicher war ich, ohne einen derartigen Abschluss eine Chance zu bekommen. Ich begann im Büro und als man sah, dass ich Potential hatte, übertrug man mir immer mehr Aufgaben. Letztendlich habe ich alles gemacht, vom Einkauf über Design bis zur Qualitätsprüfung. Es hat mir viel Spaß bereitet und es war eine schöne Zeit.

Was hast du designt?

Alles, was die Firma produzierte. Als ich anfing, hatten wir nur Herrenmode, allerdings das gesamte Spektrum. Das umfasste alles, von Hemden über Anzüge bis hin zu Schuhen. Durch meine selbst entworfenen Sachen hatte ich Aufmerksamkeit erregt und man kam auf die Idee, auch eine Frauenlinie zu entwickeln. Nach ein paar Jahren fingen wir damit an. Das Produktspektrum war hier nicht so breit wie bei den Herren, aber es war hochwertige Businessgarderobe für Frauen, die auf Qualität Wert legen. Die Sachen kamen sehr gut an.

War das eine deutsche Firma?

Die Firma war in Deutschland ansässig, aber der Inhaber war ein Franzose.
Es wurde in Italien und Portugal produziert und ich war für die Qualitätskontrolle viel in diesen Ländern unterwegs.

Wie lange hast du das gemacht?

Von 1995 bis 2002 war ich bei der Firma angestellt. Dann kam ich nach Berlin, weil mein Mann hier eine Stelle bekam. Ich habe selbständig weiter für die Firma gearbeitet. Wenn die Firma mich vor Ort brauchte, besonders wenn neue Kollektionen anstanden, bin ich hingefahren. Aber hauptsächlich habe ich von Berlin aus gearbeitet.
Mein Arbeitsgebiet beschränkte sich dann auf Modellentwicklung und Qualitätskontrolle, weil die anderen Arbeiten, wie Stoffauswahl von hier aus nicht mehr möglich waren. Dafür muss man eng mit dem Kollektiv zusammen arbeiten.

1-DSC08172-001Jetzt arbeitest Du in der Bahnhofsmission am Zoo, kümmerst Dich um Obdachlose. Wie kommst du nach all dem, was du getan hast, dort hin?

Dadurch, dass ich nicht mehr so intensiv gearbeitet habe, hatte ich Zeit, etwas anderes zu tun. Und nach so vielen Jahren Arbeit für den schönen Schein hatte ich das Bedürfnis nach Veränderung. Ich spürte den Drang etwas gänzlich anderes zu machen, als bisher. Von Natur aus bin ich sozial eingestellt und dachte, ich muss etwas Sinnvolleres tun, als nur lesen, Musik hören oder schneidern. Den Wunsch hatte ich schon immer. Es war der richtige Zeitpunkt, das auch anzugehen. Ich hatte mich an verschiedenen Stellen für ein Ehrenamt beworben, auch am Hauptbahnhof, hörte aber nichts. Ich wunderte mich, dass keiner antwortete. So bin ich eines Tages persönlich zum Hauptbahnhof gegangen und habe mit der zuständigen Person gesprochen. Das Ergebnis war, dass ich eine Zeit lang ehrenamtlich bei der Bahnhofsmission am Hauptbahnhof arbeitete. Aber dort war man damals mehr auf Reisende und Kids on tour fokussiert. Mir war es mehr nach der anderen Seite des Lebens, auch eine Frage der Selbsterkundung. Ich hatte immer Berührungsängste, vielleicht auch Vorbehalte gegenüber Obdachlosen. Ich will den Begriff Penner nicht benutzen, weil mir das zu billig ist, zu profan. Es behagt mir nicht, aber ich hatte Probleme mit Obdachlosen. Insgeheim sagt man sich, wenn man will, kann man es ändern. Jeder kann in seinem Leben etwas ändern. Nun war für mich die Zeit, da rauf zu schauen und mit den Berührungsängsten abzuschließen. Ich sagte mir, entweder wird deine Meinung bestätigt oder du musst sie revidieren. Also der Hauptbahnhof war nicht das, was ich wollte. Wieder half der Zufall. Ich begleitete einen Kollegen. Wir wollten Spenden in der Mission am Bahnhof Zoo abgeben. Ich habe den Betrieb gesehen, diese Atmosphäre gespürt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich dachte, da möchtest du hin. Ich habe dann mit dem Leiter vom Hauptbahnhof gesprochen, ob ich wechseln könne. Das ging. Ich fing am Zoo an, ehrenamtlich zu arbeiten. Am Anfang wollte ich nur einen Tag in der Woche arbeiten. Daraus wurden 3 und 4 und bei Bedarf ging ich noch häufiger hin. Es hat mir so viel Spaß gemacht. Das Miteinander der Kollegen und die Wärme, die man von den Gästen entgegengebracht bekam waren sehr beglückend. Das hat mich umgehauen. Ich spürte den starken Wunsch im sozialen Bereich tätig zu sein und erkundigte mich bei einem Kollegen, ob das möglich wäre, ob er da eine Stelle wüsste. Er hatte dann wohl auch mit Dieter Puhl, dem Leiter der Bahnhofsmission am Zoo darüber gesprochen. Und wieder zufällig wurde eine Stelle frei. So kam ich dazu, dort zu arbeiten. Die Arbeit bereitet mir so viel Freude, dass ich mit keiner anderen Stelle tauschen würde. Auch wenn es manchmal sehr nervenaufreibend oder körperlich anstrengend ist, kann ich mir keine schönere Arbeit vorstellen.

Was würdest du gerne mal gefragt werden?

(lacht) Gar nichts. Ich denke darüber nicht nach.

Gibt es etwas, das du gerne mitteilen würdest?

Dass die Leute den Mut haben sollen, sich zu engagieren, etwas zu tun, etwas Neues auszuprobieren. Wenn ich in meinem Bekanntenkreis erzähle, dass ich bei der Bahnhofsmission arbeite, geht bei denen die Kinnlade runter: „Was du? Das hätten wir von dir wirklich nicht erwartet!“ Wenn man sich den Schritt zu unbekannten Ufern traut, einfach mal etwas ausprobiert, kann das die Sichtweise völlig verändern. Sich sozial zu engagieren gibt einem so viel, dass man nach der Arbeit wirklich beseelt nach Hause geht.
*Artrejo cinemaz production dreht derzeit einen Film über Obdachlose in Berlin. Damit sollen Menschen auf das Thema aufmerksam gemacht und sensibilisiert werden, hinzuschauen, zu hinterfragen und zu helfen. Ich bin glücklich, Teil des Teams zu sein.

Das Blumenmädchen

 

Bereits 2012 schrieb ich „Das Blumenmädchen“. Seit dem lag es, zusammen mit anderen Märchen, in der Schublade, um irgendwann in einem, meinem Märchenbuch veröffentlicht zu werden. Doch nun erhielt ich den Impuls, es loszulassen, so dass es seine Leser finden kann. Es ist wie mit geliebten Kindern. Auch die muss man eines Tages frei geben. Ich wünsche Euch viel Freude beim Lesen.

 

DAS BLUMENMÄDCHEN – ein Märchen von Kordula Ullmann

Es war einmal ein Blumenmädchen Namens Rosalie, das lebte in einem kleinen Häuschen inmitten eines großen Gartens. In dem Garten wuchsen wunderschöne Blumen in allen Farben, die sich wohl nur die Natur ausdenken kann. Jeden Morgen ging Rosalie in den Garten, begrüßte die Blumen, wählte einige von ihnen aus und band sie zu prächtigen Sträußen. Diese brachte sie auf den Markt. Es dauerte nicht lange und sie hatte alle Sträuße verkauft. Von dem Erlös konnte sie bescheiden, aber gut leben. Eines Tages, mitten im Sommer, in der schönsten Blumenzeit, zog ein schweres Unwetter über das Land. Regen und Sturm verwüsteten den Garten. Sie rissen die Blätter der Rosenblüten aus, knickten die Stängel der Sonnenblumen, spülten Wurzeln aus der Erde und bedeckten alle Blumen mit Schlamm. Der ehemals farbenprächtige Garten sah braun und trostlos aus. Rosalie war verzweifelt und weinte sieben Tage und sieben Nächte lang dicke Tränen. Nicht nur, dass ihr die Blumen fehlten, sie wusste auch nicht, wie sie weiter leben, wovon sie sich ernähren sollte. Sie hatte zwar ein paar Ersparnisse, aber die würden nicht lange reichen. Das Leben schien nicht mehr lebenswert. Ihre Angst lähmte sie, dass sie nicht im Stande war irgendetwas zu tun. Als ihr das bewusst wurde, erschrak sie sehr. Das war nicht mehr sie, die lebensfrohe Rosalie! Sie wollte aus dieser Lähmung heraus, nur wusste sie nicht wie.
Da hörte sie von einem Zauberer, der im Nachbarort leben sollte. Ihr Entschluss stand fest. Sie würde den Zauberer um Hilfe bitten. Am nächsten Tag machte sie sich in aller Frühe auf den Weg. Sie musste einige Stunden laufen. Zur Mittagszeit erreichte sie endlich das Haus des Zauberers. Er saß auf einer Bank neben dem Eingang und erwartete sie bereits. Er war sehr groß und hager mit grauen Haaren und einem Gesicht, in welches das Leben seine Zeilen geschrieben hatte. Als Rosalie ihn begrüßte und sich vorstellte, wurden seine Gesichtszüge ganz weich und seine Augen leuchteten wie Aquamarine. Sie wollte ihm erzählen warum sie zu ihm gekommen war, doch er wusste bereits alles, denn er war ja ein Zauberer. Er nahm Rosalies Hand und führte sie einen Weg zwischen hohen Sträuchern hindurch. An einer Biegung wurde der Weg so schmal, dass sie hinter ihm gehen musste. Nachdem sie einige Zeit unterwegs waren, trat der Zauberer bei Seite, und vor ihnen tat sich eine Lichtung auf. Eine Wiese, so groß wie ein Marktplatz, war mit bunten Blumen übersät. Im Sonnenlicht tanzten Schmetterlinge und Libellen. An einer Wasserstelle lagen Rehe mit großen, schwarzen Knopfaugen und eine Hasenfamilie spielte ausgelassen vor ihrem Bau. In der Mitte der Lichtung stand ein riesiger Baum in dem die verschiedensten Vögel wohnten. Alles strahlte Frieden und Lebensfreude aus. Der Zauberer nahm Rosalie wieder an der Hand und führte sie zum Baum: „Liebe Rosalie, dies ist ein besonderer Baum. In seinen Wurzeln ist alles Wissen des Lebens gespeichert. Lege dich unter seine Krone und schließe die Augen.“ Rosalie fand den Gedanken, unter diesem großen, starken Baum zu liegen, sehr angenehm und suchte sich eine von Moos gepolsterte Stelle aus. Hier lag sie wie in einem weichen Bett und als sie die Augen geschlossen hatte, verlor ihr Körper jegliche Schwere. Auch ihre bedrückenden Gedanken verloren an Gewicht und schwebten auf einem Lichtstrahl davon. Bald konnte sie nicht mehr unterscheiden, ob sie wachte oder träumte. Sie sah sich in ihrem Garten stehen und überall brachen frischgrüne Keime durch die Erde. Sie konnte zuschauen, wie es um sie herum grünte und zu blühen begann. Sie lief durch ihren Garten und überall reckten sich ihr Blütenkelche entgegen und verzauberten sie mit ihrem Duft. Schmetterlinge gaukelten vor ihrer Nase herum und dicke Hummeln flogen von Blüte zu Blüte. Ein Schmetterling setzte sich auf ihre linke Schulter und rüttelte sie sanft: „Rosalie, aufwachen.“ Vorsichtig öffnete sie ihre Augen einen kleinen Spalt und schaute in das freundliche Gesicht des Zauberers. Sie musste eingeschlafen sein. Jedenfalls fühlte sie sich frisch und munter. Und sie empfand eine Kraft in sich, die sie noch nie so wahrgenommen hatte. Rosalie war es wohl unter dem Baum auf der Lichtung, doch Irgendetwas in ihr drängte sie nach Hause. Eine innere Stimme sagte ihr, dass alles gut werden würde. Wieso war sie nur vorher so niedergeschlagen? Sie hatte doch alles, was sie brauchte. Sie war gesund, hatte ihr Häuschen, fruchtbare Erde und alles Andere würde schon werden.
Der Zauberer lächelte und gebot ihr, aufzustehen, die Augen zu schließen und erst wieder zu öffnen, wenn sie Vogelgezwitscher hören würde. Sie tat wie ihr geheißen. Der Zauberer berührte ihre Stirn und sagte: „Der große Geist dieses Baumes sei mit dir. Lebe wohl Rosalie.“ Für einen Moment wurde es ganz ruhig, dann hörte sie Vogelgezwitscher. Sie öffnete die Augen und konnte es kaum glauben. Sie stand in ihrem Garten. Voller Freude nahm Rosalie einen Spaten und fing an umzugraben. Da kamen Wildschweine aus dem nahe gelegenen Wald und halfen ihr die Erde zu lockern. Kaum waren diese fertig, setzte sich ein Schwarm Nebelkrähen auf die Krume und scharrte die Erde der Beete glatt. Rosalie bedankte sich bei den Tieren für die Hilfe und überlegte wo sie nun Sämereien herbekommen könne. Da kamen aus allen Himmelsrichtungen Vögel geflogen. Jeder hatte ein bis zwei Samen im Schnabel, die er in die Erde pickte. Der Wind wollte nicht nachstehen und legte noch einige dazu. Rosalie fühlte sich glücklich und sang ein Dankeslied. Da fiel ein leichter Nieselregen. Die Sonne sendete dazu ihre wärmenden Strahlen in den Garten. Es dauerte nicht lange und zartgrüne Spitzen schauten aus der Erde. Diese wuchsen zu prächtigen Blumen mit Blüten von ungeahnter Schönheit. In der Mitte des Gartens wurde eine Blume höher als die anderen. Bald konnte Rosalie sehen, dass dies keine Blume war. Dort wuchs ein Baum, genau wie auf der Wiese des Zauberers.
Nun sah man Rosalie wieder jeden Tag mit den wundervollsten Blumensträußen auf dem Markt stehen. Und jeder, der Rosalie sah, kaufte einen Strauß, schon wegen ihres Lächelns und natürlich wegen der wunderschönen Blumen. Wer solch einen Strauß trug, fühlte Ruhe und Frieden in sich und nahm diese mit in sein Haus oder zu den Lieben, denen er diesen Strauß schenkte.
Rosalie lebte glücklich und zufrieden bis ihre Zeit vorüber war. Man erzählt, sie hätte sich unter den großen Baum in ihrem Garten gelegt und wäre dann nie mehr gesehen worden. Der Baum aber, trug von da an immer eine Rosenblüte.

Musik zum Abschied

Franziska Böhm

 

 

 

 

Ein Interview mit der Schauspielerin und Sängerin Franziska Böhm

Franziska lernte ich 2008 kennen. Wir nahmen beide an einer Masterclass für Sänger teil. Ihre Stimme fiel auf, hatte etwas anrührend Eindringliches und trotzdem Verletzliches.
Die Jahre danach waren wir locker über Facebook in Verbindung, trafen uns manchmal auf einer Veranstaltung. Vor zwei Monaten las ich von ihrem Projekt „Musik zum Abschied“.
Das interessierte mich natürlich und ich fragte sie, ob sie zu einem Interview über dieses Thema bereit wäre. War sie, und gestern trafen wir uns.

Du singst auf Beerdigungen, Trauerfeiern. Was machst Du da genau?

Das hängt davon ab, was der Kunde wünscht. Ich singe hauptsächlich Titel aus dem Bereich Pop-Musik, also Modernes, keine Klassik. Meist sind es Lieder-Wünsche, die ich in einer kleinen Besetzung realisiere. Das kann als Duo sein, also Gesang und E-Piano oder Gitarre. Auch ein Trio, Gesang mit zwei Begleitinstrumenten, ist möglich. Für mehr ist in der Regel kein Platz. Meistens sind wir in der Kapelle. Es kommt aber auch vor, dass die Leute nur am Grab Musik wünschen. Dort ist man natürlich wetterabhängig. So habe ich einen schönen, großen Schirm. Den brauchte ich neulich auch. Ich stand mit meinem Gitarristen am Grab und wollte eigentlich Handperkussionsinstrumente spielen. Aber es fing an zu regnen. Somit hatte ich beide Hände voll, musste den Schirm halten. So ist eben das Leben. Manchmal macht es uns einen Strich durch die Planung.

Nenn doch bitte ein paar Titel, die du zu Trauerfeiern singst?

Sehr oft wird „Tears In Heaven“ von Eric Clapton oder „I Will Always Love You“ von Whitney Houston bzw. Dolly Parton gewünscht. Auch „Der Weg“ von Herbert Grönemeyer steht ganz oben auf der Wunschliste. Ansonsten wird nach Titeln gefragt, die im Leben des Verstorbenen eine Rolle spielten. So hatten wir mal zwei Songs von Elvis Presley – „Devil In Disguise“ und „Kiss Me Quick“. Das sind beides keine ruhigen Balladen, aber es wurde ausdrücklich gewünscht, dass wir das originalgetreu up-tempo vortragen. Die Verstorbene war ein absoluter Elvis Presley Fan und hatte viel zu seiner Musik gefeiert.

Die Leute wünschen sich auch Titel, die du nicht im Repertoire hast?

Ja, genau. In dem Fall war das so. Die beiden Songs kannte ich nicht und sollte am Grab singen. In einer Kapelle, kann ich mir einen kleinen Notenständer hinstellen. Da lege ich meine Texte drauf und spare mir damit das Auswendiglernen. Aber draußen einen Zettel in die Hand zu nehmen, sieht komisch aus. So musste ich die Texte lernen. Die müssen richtig sitzen, denn wenn man bei einer Beerdigung ein Blackout hat, ist das sehr peinlich.

Ist es schon einmal vorgekommen, dass Du einen Wunsch nicht erfüllen konntest oder wolltest?

Bisher ist das noch nicht vorgekommen, aber das wäre schon möglich. Z.B. würde ich nichts aus der Klassik oder aus dem Schlagerbereich singen. Dafür bin ich nicht die Richtige und das würde ich dann auch sagen. Das mache ich auch bei anderen Gelegenheiten wie Firmenfeiern. Ich möchte eben nur die Musik machen, die mir liegt, die ich empfinden kann.
Bei Trauerfeiern kommen dann noch Aspekte der Pietät dazu.
Ich hatte mich im Vorfeld lange mit dem Repertoire beschäftigt – welche Texte in Frage kommen und Sachen angehört, die nicht so bekannt sind. Ich habe geschaut, was passt und sehr schöne Lieder gefunden.

Wo kann man sich über Dein Repertoire für Trauerfeiern informieren?

Das findet man auf meiner Seite www.trauerfeier-musik.com. Es ist aber relativ begrenzt, da die Leute oft mit eigenen Wünschen kommen.

Ist es für den Kunden teurer, wenn er Lieder hören möchte, die du nicht im Repertoire hast, also erst einstudieren musst?

Das ist auf jeden Fall teurer, da der Aufwand größer ist. Es ist immer von den jeweiligen Liedern abhängig.

Welche Instrumentierung ist möglich?

Piano oder Gitarre – das ist am einfachsten. Gitarre ist eben mobil. Die kann man gut mit ans Grab nehmen. Piano ist dagegen von der Stilistik her vielseitiger einsetzbar. Wenn wir als Trio auftreten, kommt meist ein Cello dazu. Je nach Repertoire kann man unterschiedlich kombinieren. Cello, Violine Gesang geht auch oder Akkordeon, Violine, Gesang. Ich muss auch immer schauen, welche Musiker am Termin Zeit haben.

Wenn ein E-Piano dabei ist, braucht ihr einen Stromanschluss. Arbeitet ihr dann auch allgemein mit Technik, Mikro usw.?

Ja, in der Kapelle arbeiten wir immer mit Technik. Ich habe dadurch auch mehr Möglichkeiten für die Interpretation. Ich kann sehr weich und einfühlsam singen, ohne dass die Musikinstrumente meinen Gesang übertönen.

Wie viele Titel singst du?

In der Regel singe ich drei Titel. Der Instrumentalist begleitet dann auch meist die Trauerrede. Er kann das gut improvisieren. Das gibt eine sehr schöne Atmosphäre.

Wie bist du überhaupt dazu gekommen, auf Trauerfeiern zu singen?

2009 half ich in einer Band aus. Dies spielte unter anderem auch auf Trauerfeiern. Ich habe dabei gemerkt, wie sehr mir getragene Stücke am Herzen liegen. Und ich fühlte, dass es etwas Wichtiges ist, was ich da tue. Darüber hinaus empfand ich es auch als Ehre, dass mir Vertrauen entgegengebracht wird, dieses Ritual zu begleiten.

Welche Frage würdest Du gerne noch beantworten?

(überlegt) … Das finde ich noch interessant – wie schwierig es ist, Musiker für derartige Projekte zu finden. Es hat mich echt überrascht, wie viel Berührungsängste da auch auf Seiten der Künstler sind. Damit hatte ich echt nicht gerechnet. Obwohl sie den Auftrag sicher gut brauchen könnten, antworteten viele: „Das mach ich nicht.“

Was denkst du, woran es liegt, dass Menschen solche Berührungsängste beim Thema Tod haben?

Ich habe bei manchen Musikern persönliche Erfahrungen mit diesem Thema raus gehört. Es war mal ein ganz junger Kollege dabei, der hinterher fix und fertig war. Dem standen vor Mitgefühl die Tränen in den Augen. Ich sehe, dass viele ein Problem haben sich abzugrenzen und das Thema Tod ins Leben zu integrieren.
Dass der Tod mit unangenehmen, unschönen Dingen in Verbindung gebracht wird, spielt sicher auch eine Rolle. Und dann suggerieren uns die Medien ja laufend ewige Jugend und Schönheit. Da passt der Tod eben nicht rein.

Wie geht es dir persönlich, wenn du bei einer Trauerfeier singst?

Das hört sich jetzt vielleicht etwas seltsam an. Ich freue mich riesig, dass ich auf einer Trauerfeier singen darf. Ich fühle mich geehrt und denke, Franziska jetzt kannst Du mal wieder was Großes, was mit Tiefgang tun. Da vertraut mir jemand diese Aufgabe an. Das erfüllt mich mit Freude und natürlich auch mit Respekt. Dann überlege ich: Wie verhalte ich mich am besten, um einerseits den Trauergästen meine Wertschätzung, meinen Respekt und mein Mitgefühl zu übermitteln und andererseits genügend Distanz zu haben, um meine Aufgabe erfüllen zu können. Wenn ich dann nach Hause gehe und der Kunde war zufrieden, bin ich glücklich und voller Stolz. Das ist eben ganz anderes, als nach einem Gig auf einer Firmenfeier.

Wie viel Vorlauf brauchst Du? Wie viele Tage vorher muss man anfragen?

Je früher, umso besser. Meist bekomme ich die Anfrage etwa eine Woche vorher, bei Urnenbestattungen sogar einen Monat vorher. Wenn die Zeit kürzer ist, können wir einen Auftrag auch noch realisieren. Allerdings kann der Kunde dann nur aus dem bestehenden Repertoire auswählen und ich muss schauen, welcher Musikern so kurzfristig frei ist.

Wie kann man Dich buchen?

Wie man möchte – per Telefon oder Mail. Auf meiner Internetseite sind alle Kontaktmöglichkeiten angegeben.

Internetseite von Franziska Böhm:  www.trauerfeier-musik.com

Schatten aus Kindheitstagen

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Ich möchte Euch eine kleine Geschichte erzählen:
Es war einmal eine Frau. Ich nenne Sie Marion. Sie traute sich schon in Jugendjahren nicht, sich auf etwas zu freuen, denn wenn es dann nicht eintrat, konnte sie das nur schwer ertragen. Es machte sie sehr traurig.
Ganz schlimm wurde es, als Marion in späteren Jahren Beziehungen mit Männern einging. Es kam vor, dass ihr Freund sich ankündigte, aber dann begründet oder unbegründet nicht erschien. Da sie ihn liebte und vertraute, konnte sie nicht umhin, sich auf ihn zu freuen. Wenn dann dieses, von ihr sehnsüchtig erwartete Treffen aus irgendeinem Grund nicht stattfand, fühlte sie einen großen Schmerz. Sie dachte, dass das in der Liebe eben so sei. Später hatte sie mit einem Partner einen Urlaub geplant. Kurz vorher sagte er ab. Das verursachte einen so starken Schmerz in ihr, dass es sich wie sterben anfühlte. Die Beziehung zerbrach. Es kam noch heftiger. Marion verliebte sich in einen beziehungsunfähigen Mann. Sie konnte diese Liebe weder loslassen noch leben. Er zog sie immer wieder an und stieß sie weg, hielt sie auf Abstand. Diese Liebe ließ sie Situationen erleben, die ihr geradezu lebensbedrohende, seelische Schmerzen bereiteten. Sie konnte das nicht mehr ertragen und suchte nach einer Lösung. Marion erfuhr, dass ihre schlimmen Gefühle nicht von der jeweiligen Situation herrühren, sondern Gefühle eines Erlebnisses in der Kindheit sind, die durch das aktuelle Ereignis wiederbelebt werden. Mit diesem Wissen machte sie sich auf die Suche, fand das Quellereignis und verstand.
Marion war 8 Jahre, als man bei ihrer Mutter Krebs feststellte. Ihre Mutter wurde operiert, erhielt Bestrahlungen. Es ging ihr nicht gut, aber die Ärzte würden sie bestimmt wieder gesund machen. Wenn die Mutter nicht im Krankenhaus war, lag sie im Wohnzimmer auf der Couch und Marions Vater kümmerte sich um sie. Ein Jahr später, in den Sommerferien, verbrachte Marion Zeit auf dem Bauernhof von Familie Franke. Frankes waren Freunde ihrer Eltern. Sie war gerne dort, denn es war interessant die Tiere zu beobachten und es machte Spaß mit den beiden Kindern der Familie zu spielen. Sie hatte viel Schönes erlebt und freute sich darauf, nach 2 Wochen wieder nach Hause zu kommen. Frau Franke fuhr Marion mit dem Auto die 120 km bis zur Wohnung. Auf der Heimfahrt stellte sich Marion vor, wie sie ihrer Mutti von dem großen Obstgarten, den süßen Birnen, der Suche nach frisch gelegten Eiern in der Scheune und all den anderen Erlebnissen berichten würde. Sie freute sich auf das Lächeln ihrer Mutti. Bei der Verabschiedung umarmte Frau Franke Marion lange bis sie ganz vorsichtig sagte: „Marion, wenn du jetzt nach Hause kommst, ist deine Mutti nicht mehr da, aber dein Vati wartet schon auf dich.“ Marion konnte den Sinn der Worte nicht verstehen und lief zum Hauseingang. Ihr Vater kam ihr entgegen. Marion sagte zu ihm: „Ich will zu Mutti!“ Er nahm sie stumm an der Hand und ging mit ihr die Stufen zur Wohnung hinauf. Dort sagte er: „Deine Mutti ist tot.“ Marion rannte ins Wohnzimmer und blieb an der Tür stehen. Die Couch, auf der immer ihre Mutti lag war leer! Marion stand alleine im Zimmer, starrte auf die leere Couch und weinte mit einem Schluchzen, das einem Aufschrei aus tiefstem Inneren gleich kam. Es tat so weh! Ihre Mutti war weg! Sie hatte sich nicht verabschiedet! Ihre Mutti hatte sie alleine gelassen – für immer! Warum hatte ihr keiner etwas gesagt?
Das war es. Diesen unsagbaren Schmerz empfand Marion jedes Mal, wenn ein geliebter Mensch, auf den sie sich freute, sie alleine ließ.
Als sie das erkannte, war es ihr möglich mit derartigen Situationen anders umzugehen. Sie konnte sehen, dass der empfundene große Schmerz nichts mit der aktuellen Situation zu tun hatte, dass er in die Vergangenheit gehörte. Es tat noch weh, aber es stürzte sie nicht mehr in Verzweiflung. Der Schmerz war erträglich und mehr eine Sehnsucht nach dem geliebten Menschen, auf den sie jetzt etwas länger warten musste.

Ich tat, was Sokrates sagte

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Von dem griechischen Philosophen Sokrates ist folgender Satz überliefert: „Alles was wir in Worte fassen können, können wir hinter uns lassen.“

Genau das hatte ich damals intuitiv getan, als mein Mann gestorben war.* Immer wenn schmerzliche Gedanken aufkamen, schrieb ich diese auf ein Stück Papier, dass ich gerade zu fassen bekam. Es wurde dann ruhiger in mir. Überall im Haus lagen Zettel mit Wortfetzen herum und irgendwann begann ich sie in einem Umschlag zu sammeln. Doch das genügte mir noch nicht. Ich hatte Schuldgefühle, weil ich nicht bei meinem Mann sein konnte, als es ihm schlecht ging. Die waren eigentlich unbegründet, denn ich durfte und konnte nicht zu ihm. Er lag im Berliner Virchow-Klinikum unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen auf der Isolierstation und ich durfte von unserem Grundstück auf dem Land, 120 km entfernt, nicht weg. Ich hätte es auch kräftemäßig nicht geschafft. So war er alleine gestorben.
Auch wenn der Verstand sagte, du konntest nicht zu ihm, war das Empfinden anders. Dieses meinte, ich hätte bei meinem Mann sein sollen. Ich musste etwas tun, um mir selbst verzeihen zu können. Und so begab ich mich auf einen Weg, für den ich sonst wohl nie den Mut gehabt hätte. Ich nahm Gesangsunterricht, schrieb aus meinen Wortfetzen Texte, gründete ein Musiklabel und produzierte eine CD für meinen Mann, in der ich all meinen Gefühlen Ausdruck verlieh. Musik koppelt Worte noch intensiver an Gefühle. Die erste Zeit liefen Tränen und die Stimme versagte beim Singen. Dazu kam, dass ich absolut keine Ahnung von der Musikbranche hatte. Ich musste mir alles erfragen, anlesen, irgendwie aneignen. Es war ein langer beschwerlicher Weg und ich hatte gegen Ende das Gefühl, meinen ganz persönlichen Jacobsweg zu gehen. Im Jahr 2006, nach 6 Jahren, hatte ich endlich die CD „Geschichten einer Liebe“ in der Hand. Sie war unter extremen Bedingungen mit dem Einsatz meiner letzten Kräfte produziert.

Auch von außen wurde ich dazu gedrängt, meine Gefühle in Worte zu fassen. Es bestand ein großes Interesse der Medien, dem ich mich nicht völlig entziehen konnte. Als mein Mann im Virchow-Klinikum lag, wurde mein Haus von Kamerateams regelrecht belagert. Nach seinem Tod, gab es Vermutungen und Spekulationen, die mich verletzten, weil Menschen, die ihn nicht kannten, ihm eine Verwechslung unterstellten. So ging ich vor die Kamera, um das klarstellen zu können. Das kostete mich alles sehr viel Kraft, doch jetzt weiß ich, dass es auch eine gute Seite hatte. Ich war gezwungen hin zu schauen und mich mit meiner Situation und meinen Gefühlen auseinanderzusetzen. Es gab noch genug, das ich vorerst verdrängte.
2005 wurde ich gefragt, ob ich an einem Buch** über Verlustverarbeitung mitwirken wolle. Ich hatte Connie Palmens Buch über ihre große Liebe Ischa Meijer und dessen Tod gelesen. Es war für mich tröstlich, zu wissen, mit diesem Schmerz nicht alleine zu sein. Meine Geschichte würde vielleicht anderen helfen können. Ich sagte zu.
Es sind nur 19 Seiten, die unter Tränen, seelischen und körperlichen Schmerzen geschrieben wurden. Ich hatte mich in ein kleines Hotel im Spreewald zurückgezogen, um ungestört zu sein. Nach 5 Tagen musste ich abbrechen, da mein Körper völlig verspannt war, ich unter starken Kopfschmerzen und Übelkeit litt. Nach einer Ruhepause schrieb ich weiter. Es war ein Teil Aufarbeitung und ich glaube, es war die Initiation für meine schriftstellerische Arbeit.
Jetzt nach fast 16 Jahren, in denen es immer wieder Phasen der Aufarbeitung gab, habe ich begonnen, die ganze Geschichte zu schreiben. Ich brauchte die Zeit, um mit Abstand auf die Geschehnisse schauen zu können. Doch nun werde ich auch das, was ich bisher im Verborgenen hielt in Worte fassen.
Und es wird nicht nur Trauriges geben, sondern auch Spannendes und Liebevolles.

Ein Liedtext von meiner CD „Geschichten einer Liebe“

Es geht weiter

Fühle meine Kräfte schwinden –
kann nicht mehr – will nicht mehr.
Möcht mich einfach fallen lassen –
aber keiner ist da, der mich fängt.

Schwarze Locken – oftmals viel zu kurz –
hab sie geliebt – hab dich geliebt.
Das Leben geht weiter – einfach so –
es fragt nicht nach Schmerz – fragt es nicht.

Fühl mich so leer – alles ist taub – halt mich in deinen Armen –
lass mich deinen Herzschlag spüren.
Fühl mich so leer – alles ist taub – halt mich in deinen Armen –
will in deinen Blicken versinken.

Nie wieder meine Spuren von Deiner Brille putzen.
Nie wieder Deine Geschichten hören.
Nie wieder bangend auf Dich warten.
Nie wieder deine Hände spüren.

Fühl mich so leer – alles ist taub – halt mich in deinen Armen –
lass mich deinen Herzschlag spüren.
Fühl mich so leer – alles ist taub – halt mich in deinen Armen –
will in deinen Blicken versinken.

Vorbei – doch ich leb weiter – und ich mach was draus –
für dich und mich – und alle, die denken, dass es keine Hoffnung gibt.

Fühl Kraft in mir – kann Berge versetzen – spüre deinen Willen –
führe deinen Herzschlag fort.
Fühl Kraft in mir – kann Berge versetzen – spüre deinen Willen –
deinen letzten Blick vergess ich nie.
*Im August 1999 starb mein Mann nach einem gemeinsamen Arbeitsaufenthalt in Westafrika an Gelbfieber.

**„Stärker als je zuvor“ von Heike Reuther, Ullstein Buchverlage

Er empfindet!

Schönheit am Wegrand

 

Heute war ich wieder bei Frank und wurde zutiefst berührt und erschüttert.
Dieses Mal lag er mit dem Gesicht der Tür zugewandt. Die Sonne schien in sein Gesicht und ließ das Blau seiner starr geradeaus blickenden Augen durchsichtig erscheinen. Doch einen Blick in seine Seele gaben sie nicht frei. Oder konnte ich es nur nicht sehen? Ich begrüßte ihn. Seine Augen blickten ins Leere.

Ich hatte gelesen, dass Menschen im Wachkoma auf Tiere reagieren und Pferde für Therapiezwecke eingesetzt werden. Ein Pferd hierher mitzunehmen, wäre sicher etwas schwierig, aber ich habe einen kleinen, sehr lieben Hund Arno, und der war heute mit. Ich hob ihn hoch, in die Nähe von Franks Gesicht. Frank reagierte. Sein Mund versuchte Worte zu formen. Sie blieben tonlos, aber er bemühte sich immer wieder – und da – eine kaum zu bemerkende Bewegung seiner Augen zu Arno hin. Mein Herz machte einen kleinen Freudenhüpfer. Welches Gewicht doch Kleinigkeiten manchmal haben und vor allem, wie viel Freude und Hoffnung sie geben können!

Dann las ich Frank eines meiner Märchen vor, in dem ich über Metaphern aus der Pflanzenwelt von zwei Liebenden erzähle. Es geht um Trennung, alleine sein, Wachstum und wieder finden. Er muss diesen Inhalt verstanden haben, den er reagierte unterschiedlich auf verschiedene Textstellen. Seine Augen füllten sich mit Tränen und dieses Mal versiegten diese nicht. Sie übertraten die Schwellen und liefen ins Freie.

Als Nächstes hatte ich Texte aus Paulo Coelhos „Handbuch des Kriegers des Lichts“ ausgewählt.
Ich las: „Ein Krieger des Lichts bekommt im Leben immer eine zweite Chance. Wie alle anderen Menschen auch, weiß ein Krieger am Anfang seines Lebens nicht, wohin sein Weg ihn führen wird. Oftmals hat er den falschen Weg eingeschlagen, ehe er herausfindet, welches der Traum ist, den er in seinem Leben verwirklichen muss….“

Ich traute meinen Augen kaum. Der im Wachkoma vor mir liegende Mensch, von dem ich nicht wusste, was er wahrnimmt, ob er etwas empfindet, war völlig aufgewühlt. Er hob den Kopf, einem tiefen Atemzug folgte ein leises Stöhnen, die Lippen formten tonlose Worte und er weinte, seine ganze Mimik weinte. Die Tränen flossen über seine Wangen und tropften auf Hände, die sie nicht abwischen konnte. Jetzt wusste ich, Frank konnte verstehen, fühlen. Welcher Schmerz musste in diesem Körper gefangen sein! Er konnte ihn nicht hinausschreien, sich niemandem mitteilen. Auch meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich mag gar nicht daran denken, wie es sich wohl anfühlt, wenn man plötzlich mitten aus dem Leben gerissen wird, weg von Familie und Freunden.
Ich habe selbst erfahren, wie schnell sich eine Lebenssituation ändern kann, als mein Mann starb. Keiner weiß, wie lange er sich bei guter Gesundheit des Lebens erfreuen kann. Wie oft gehen wir achtlos mit unserer Lebenszeit um, verschieben Dinge, die wir gerne tun würden auf später, jagen der Kariere hinterher und vergessen darüber die Familie, sagen einem Menschen nicht, was er uns bedeutet, erfreuen uns nicht an Blüten am Wegrand, …!

Frank kann nicht sprechen, aber er kann uns so viel lehren, uns wach rütteln.

 

Zum besseren Verständnis kannst Du den vorhergehenden Beitrag „Wie ein Wachkomapatient mir half, mich zu erinnern“ lesen.
Auf das angekündigte Interview mit Franks Frau Karin gedulde Dich bitte noch ein wenig. Es erfordert Kraft über Schmerzliches zu reden, und so ist es ihre Entscheidung, wann sie bereit ist, das zu tun.

Hinweis: Die Namen wurden geändert.

Buchempfehlung: Paulo Coelho, „Handbuch des Kriegers des Lichts“, Diogenes Verlag

Wie ein Wachkomapatient mir half, mich zu erinnern

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Vor zwei Tagen besuchte ich einen Freund. Ich sage Freund, auch wenn wir uns nur wenige Male gesehen und gesprochen hatten. Mit manchen Menschen fühlt man sich sehr schnell verbunden, weil sie gleiche Ziele, Ansichten, Wertevorstellungen haben. Jedenfalls war ich ihn besuchen und das hat mich so sehr berührt, dass ich jetzt weiß, was ich in meinem Blog schreiben werde: Geschichten – über Menschen, über das was sie im Alltag erleben, fühlen, verkraften, leisten – über das, was sie antreibt, was bei ihnen Veränderung, Entwicklung bewirkt.

Das letzte Mal, als ich meinen Freund Frank sah, war er ein großer, agiler Mann. Er war voller Energie und Enthusiasmus dabei, sich und seiner Familie eine neue Existenz aufzubauen. Ich wollte von ihm einen Rat zu einem Thema, das mich bewegte und den bekam ich auch. Nun, etwa 2 Jahre später durchquere ich einen Hinterhof, gehe in einen erleuchteten Hausflur und steige die Treppe zur ersten Etage hinauf. An der Tür steht „Lebensmut“. Ich solle einfach die Tür aufdrücken, hatte mir Franks Frau Petra geschrieben. Das Zimmer geradeaus wäre seins.
Die Lebensmut-Tür gibt leicht nach und ich stehe am Anfang eines U-förmigen schmalen Ganges. So hatte ich mir ein Pflegeheim nicht vorgestellt, aber ich bin angenehm überrascht. Für mich hat es etwas von einer großen WG. Wenige Schritte vor mir ist die Zimmertür weit geöffnet. Ich sehe einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen, dahinter eine Sitzbank. Der Rollstuhl neben dem Tisch ist leer. Vom anderen Ende des Ganges höre ich Wasser plätschern und Stimmen. Ich warte, ob vielleicht ein Pfleger kommt. Als mir das zu lange dauert traue ich mich, in das offene Zimmer hinein zu schauen.
Da liegt ein Mann in einem breiten Bett mit Geländer. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen. Es ist von mir abgewannt. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartet. Ich wusste von Petra nur, dass ihr Mann im Wachkoma liegt. Noch nie hatte ich einen Menschen in diesem Zustand gesehen.

Als ich meinen Vater das letzte Mal besuchte, lag er im Koma. Sein Körper sah ganz entspannt aus und die Augen waren geschlossen, als würde er schlafen. Als ich ihm von meinem erfolgreichen Auftritt zur Abschlussveranstaltung eines Workshops an der Stage School in Hamburg erzählte, kullerten zwei Tränchen aus seinen Augen. Das war alles ganz friedlich und trotz der traurigen Umstände irgendwie schön. Seine Reaktion zeigte mir, dass er mich gehört hatte und ich glaube es waren Freudentränchen.

Vor mir liegt ein gekrümmter Körper an Plastikschläuchen, die Augen geöffnet, aber der Blick ist starr. Die Hände sind spastisch verkrampft, Gesicht und Haare verschwitzt. Ich bin mir nicht sicher, ob das Frank ist. Es ist bereits dämmrig. Das Licht möchte ich nicht anschalten. Es würde den Menschen vor mir bestimmt blenden. Ich schaue genauer hin. Doch, das muss er sein. Ich denke an Petra. Wie mag es ihr gehen, wenn sie ihren Mann so sieht? Ich habe einige Male mit ihr telefoniert. Ihre Stimme hörte sich zart und zerbrechlich an, aber sie machte immer einen sehr gefassten Eindruck. Ich bewundere die Stärke dieser Frau.

Ich lese Frank Märchen vor und ein paar Seiten von Clemens Kubys Geschichte über dessen Heilung von einer Querschnittslähmung. Frank reagiert, schließt eine Weile die Augen, öffnet sie wieder. Das Weiß der Augäpfel rötet sich. Es sieht aus, als wollen Tränen fließen, aber das schimmernde Nass versiegt, bevor es überfließen kann. Zwei oder drei Mal ringt sein Körper einen Seufzer hervor. Einmal sieht es so aus, als ob er etwas sagen will. Die Mimik seines Gesichts verrät große Anstrengung, doch als er den Mund öffnet, läuft nur Speichel heraus. Ich habe das Gefühl ein kleines Kind vor mir zu haben, wische den Speichel ab. Ich glaube, ich fühle gerade, was in etwa Mütter behinderten Kindern fühlen. Irgendwie muss diese Hilflosigkeit bei Frauen so etwas wie einen Reflex für Zuwendung und Fürsorge auslösen, ein warmes Gefühl der Liebe.

Zu gerne würde ich wissen, was bei Frank ankommt und wie er das wahrnimmt. Auf jeden Fall bin ich davon überzeugt, dass er mich hört. Und ich glaube daran, dass sich sein Zustand bessern wird, will es glauben. Ich denke darüber nach, wie es wohl sein mag, in einem Körper gefangen zu sein, der nicht mehr richtig funktioniert, der wie ein Käfig ist. Diese Seele hatte definitiv den Körper schon verlassen. Frank wurde eine Stunde lang reanimiert. Was hat sie dazu gebracht nach dieser langen Zeit wieder zurück zu kehren? Das muss doch einen Sinn haben! Ich sage das Frank und bitte ihn zu kämpfen. Der menschliche Körper ist ein Wunderwerk und erschafft sich ständig neu. Da geht noch was.
Clemens Kuby sagten die Ärzte, er würde den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen. Er ignorierte das, wollte wieder gesund werden. Ich habe ihn 2008 mit eigenen Augen ganz normal auf der Bühne herumlaufen gesehen.

Auf dem Heimweg beschäftigt mich die Frage, warum dieses Herz einfach stehen blieb. Lebte Frank so sehr an ihm vorbei? Selbständig zu sein oder alleine ein Geschäft, eine neue Existenz aufzubauen, fordert sehr. Ich bin auch erst vor kurzem auf die Bremse getreten. Ich habe gearbeitet, auch am Wochenende, auch am Abend, keinen Urlaub gemacht. Mein Leben bestand fast nur noch aus arbeiten, schlafen, essen, bis ich mich fragte, was ich da eigentlich treibe. Jeder Mensch in einem Anstellungsverhältnis hatte einen Feierabend, freie Tage. Ich dachte an die Zeit vor meiner Selbständigkeit zurück. Da fand ich Zeit zum Stricken, Nähen, Treffen mit Freunden, …
Seit ich selbständig war und alleine lebte, musste immer etwas erledigt, abgearbeitet, noch erreicht werden. Die Tage waren einfach zu kurz. Halt! Da stimmte etwas nicht! Ich erkannte, dass ich selbst mir die Erlaubnis geben musste, Feierabend zu machen. Ich selbst musste mir Zeit geben, um abzuschalten, aufzutanken. Ich musste lernen liebevoll mit mir umzugehen. Ich hatte es gerade mal wieder vergessen, aber Frank erinnerte mich daran. Er wird mich ab jetzt immer erinnern, dass ich ein Herz und einen Körper habe, die Zuwendung und Erholung brauchen.

Ich werde mir Zeit nehmen, Frank weiter zu besuchen, ihm vorzulesen und zu erzählen. Ich schenke diese Zeit mir und ihm. Ich denke Zuwendung ist für ihn ganz wichtig und kann Besserung bewirken. Für mich sind diese Stunden aufbauend, denn Helfen macht glücklich. Auch Petra kann ich damit unterstützen. Sie ist bis zu zwei Stunden unterwegs, um ihren Mann zu besuchen und zurück noch einmal so lange. Bald werde ich sie persönlich kennen lernen. Darauf freue ich mich und ich bin sehr gespannt.

Hinweis: Die Namen wurden geändert.
Literaturempfehlung:
Clemens Kuby, Unterwegs in die nächste Dimension, Goldmann Verlag