Heute war ich wieder bei Frank und wurde zutiefst berührt und erschüttert.
Dieses Mal lag er mit dem Gesicht der Tür zugewandt. Die Sonne schien in sein Gesicht und ließ das Blau seiner starr geradeaus blickenden Augen durchsichtig erscheinen. Doch einen Blick in seine Seele gaben sie nicht frei. Oder konnte ich es nur nicht sehen? Ich begrüßte ihn. Seine Augen blickten ins Leere.
Ich hatte gelesen, dass Menschen im Wachkoma auf Tiere reagieren und Pferde für Therapiezwecke eingesetzt werden. Ein Pferd hierher mitzunehmen, wäre sicher etwas schwierig, aber ich habe einen kleinen, sehr lieben Hund Arno, und der war heute mit. Ich hob ihn hoch, in die Nähe von Franks Gesicht. Frank reagierte. Sein Mund versuchte Worte zu formen. Sie blieben tonlos, aber er bemühte sich immer wieder – und da – eine kaum zu bemerkende Bewegung seiner Augen zu Arno hin. Mein Herz machte einen kleinen Freudenhüpfer. Welches Gewicht doch Kleinigkeiten manchmal haben und vor allem, wie viel Freude und Hoffnung sie geben können!
Dann las ich Frank eines meiner Märchen vor, in dem ich über Metaphern aus der Pflanzenwelt von zwei Liebenden erzähle. Es geht um Trennung, alleine sein, Wachstum und wieder finden. Er muss diesen Inhalt verstanden haben, den er reagierte unterschiedlich auf verschiedene Textstellen. Seine Augen füllten sich mit Tränen und dieses Mal versiegten diese nicht. Sie übertraten die Schwellen und liefen ins Freie.
Als Nächstes hatte ich Texte aus Paulo Coelhos „Handbuch des Kriegers des Lichts“ ausgewählt.
Ich las: „Ein Krieger des Lichts bekommt im Leben immer eine zweite Chance. Wie alle anderen Menschen auch, weiß ein Krieger am Anfang seines Lebens nicht, wohin sein Weg ihn führen wird. Oftmals hat er den falschen Weg eingeschlagen, ehe er herausfindet, welches der Traum ist, den er in seinem Leben verwirklichen muss….“
Ich traute meinen Augen kaum. Der im Wachkoma vor mir liegende Mensch, von dem ich nicht wusste, was er wahrnimmt, ob er etwas empfindet, war völlig aufgewühlt. Er hob den Kopf, einem tiefen Atemzug folgte ein leises Stöhnen, die Lippen formten tonlose Worte und er weinte, seine ganze Mimik weinte. Die Tränen flossen über seine Wangen und tropften auf Hände, die sie nicht abwischen konnte. Jetzt wusste ich, Frank konnte verstehen, fühlen. Welcher Schmerz musste in diesem Körper gefangen sein! Er konnte ihn nicht hinausschreien, sich niemandem mitteilen. Auch meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich mag gar nicht daran denken, wie es sich wohl anfühlt, wenn man plötzlich mitten aus dem Leben gerissen wird, weg von Familie und Freunden.
Ich habe selbst erfahren, wie schnell sich eine Lebenssituation ändern kann, als mein Mann starb. Keiner weiß, wie lange er sich bei guter Gesundheit des Lebens erfreuen kann. Wie oft gehen wir achtlos mit unserer Lebenszeit um, verschieben Dinge, die wir gerne tun würden auf später, jagen der Kariere hinterher und vergessen darüber die Familie, sagen einem Menschen nicht, was er uns bedeutet, erfreuen uns nicht an Blüten am Wegrand, …!
Frank kann nicht sprechen, aber er kann uns so viel lehren, uns wach rütteln.
Zum besseren Verständnis kannst Du den vorhergehenden Beitrag „Wie ein Wachkomapatient mir half, mich zu erinnern“ lesen.
Auf das angekündigte Interview mit Franks Frau Karin gedulde Dich bitte noch ein wenig. Es erfordert Kraft über Schmerzliches zu reden, und so ist es ihre Entscheidung, wann sie bereit ist, das zu tun.
Hinweis: Die Namen wurden geändert.
Buchempfehlung: Paulo Coelho, „Handbuch des Kriegers des Lichts“, Diogenes Verlag