Schatten aus Kindheitstagen

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Ich möchte Euch eine kleine Geschichte erzählen:
Es war einmal eine Frau. Ich nenne Sie Marion. Sie traute sich schon in Jugendjahren nicht, sich auf etwas zu freuen, denn wenn es dann nicht eintrat, konnte sie das nur schwer ertragen. Es machte sie sehr traurig.
Ganz schlimm wurde es, als Marion in späteren Jahren Beziehungen mit Männern einging. Es kam vor, dass ihr Freund sich ankündigte, aber dann begründet oder unbegründet nicht erschien. Da sie ihn liebte und vertraute, konnte sie nicht umhin, sich auf ihn zu freuen. Wenn dann dieses, von ihr sehnsüchtig erwartete Treffen aus irgendeinem Grund nicht stattfand, fühlte sie einen großen Schmerz. Sie dachte, dass das in der Liebe eben so sei. Später hatte sie mit einem Partner einen Urlaub geplant. Kurz vorher sagte er ab. Das verursachte einen so starken Schmerz in ihr, dass es sich wie sterben anfühlte. Die Beziehung zerbrach. Es kam noch heftiger. Marion verliebte sich in einen beziehungsunfähigen Mann. Sie konnte diese Liebe weder loslassen noch leben. Er zog sie immer wieder an und stieß sie weg, hielt sie auf Abstand. Diese Liebe ließ sie Situationen erleben, die ihr geradezu lebensbedrohende, seelische Schmerzen bereiteten. Sie konnte das nicht mehr ertragen und suchte nach einer Lösung. Marion erfuhr, dass ihre schlimmen Gefühle nicht von der jeweiligen Situation herrühren, sondern Gefühle eines Erlebnisses in der Kindheit sind, die durch das aktuelle Ereignis wiederbelebt werden. Mit diesem Wissen machte sie sich auf die Suche, fand das Quellereignis und verstand.
Marion war 8 Jahre, als man bei ihrer Mutter Krebs feststellte. Ihre Mutter wurde operiert, erhielt Bestrahlungen. Es ging ihr nicht gut, aber die Ärzte würden sie bestimmt wieder gesund machen. Wenn die Mutter nicht im Krankenhaus war, lag sie im Wohnzimmer auf der Couch und Marions Vater kümmerte sich um sie. Ein Jahr später, in den Sommerferien, verbrachte Marion Zeit auf dem Bauernhof von Familie Franke. Frankes waren Freunde ihrer Eltern. Sie war gerne dort, denn es war interessant die Tiere zu beobachten und es machte Spaß mit den beiden Kindern der Familie zu spielen. Sie hatte viel Schönes erlebt und freute sich darauf, nach 2 Wochen wieder nach Hause zu kommen. Frau Franke fuhr Marion mit dem Auto die 120 km bis zur Wohnung. Auf der Heimfahrt stellte sich Marion vor, wie sie ihrer Mutti von dem großen Obstgarten, den süßen Birnen, der Suche nach frisch gelegten Eiern in der Scheune und all den anderen Erlebnissen berichten würde. Sie freute sich auf das Lächeln ihrer Mutti. Bei der Verabschiedung umarmte Frau Franke Marion lange bis sie ganz vorsichtig sagte: „Marion, wenn du jetzt nach Hause kommst, ist deine Mutti nicht mehr da, aber dein Vati wartet schon auf dich.“ Marion konnte den Sinn der Worte nicht verstehen und lief zum Hauseingang. Ihr Vater kam ihr entgegen. Marion sagte zu ihm: „Ich will zu Mutti!“ Er nahm sie stumm an der Hand und ging mit ihr die Stufen zur Wohnung hinauf. Dort sagte er: „Deine Mutti ist tot.“ Marion rannte ins Wohnzimmer und blieb an der Tür stehen. Die Couch, auf der immer ihre Mutti lag war leer! Marion stand alleine im Zimmer, starrte auf die leere Couch und weinte mit einem Schluchzen, das einem Aufschrei aus tiefstem Inneren gleich kam. Es tat so weh! Ihre Mutti war weg! Sie hatte sich nicht verabschiedet! Ihre Mutti hatte sie alleine gelassen – für immer! Warum hatte ihr keiner etwas gesagt?
Das war es. Diesen unsagbaren Schmerz empfand Marion jedes Mal, wenn ein geliebter Mensch, auf den sie sich freute, sie alleine ließ.
Als sie das erkannte, war es ihr möglich mit derartigen Situationen anders umzugehen. Sie konnte sehen, dass der empfundene große Schmerz nichts mit der aktuellen Situation zu tun hatte, dass er in die Vergangenheit gehörte. Es tat noch weh, aber es stürzte sie nicht mehr in Verzweiflung. Der Schmerz war erträglich und mehr eine Sehnsucht nach dem geliebten Menschen, auf den sie jetzt etwas länger warten musste.

Ich tat, was Sokrates sagte

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Von dem griechischen Philosophen Sokrates ist folgender Satz überliefert: „Alles was wir in Worte fassen können, können wir hinter uns lassen.“

Genau das hatte ich damals intuitiv getan, als mein Mann gestorben war.* Immer wenn schmerzliche Gedanken aufkamen, schrieb ich diese auf ein Stück Papier, dass ich gerade zu fassen bekam. Es wurde dann ruhiger in mir. Überall im Haus lagen Zettel mit Wortfetzen herum und irgendwann begann ich sie in einem Umschlag zu sammeln. Doch das genügte mir noch nicht. Ich hatte Schuldgefühle, weil ich nicht bei meinem Mann sein konnte, als es ihm schlecht ging. Die waren eigentlich unbegründet, denn ich durfte und konnte nicht zu ihm. Er lag im Berliner Virchow-Klinikum unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen auf der Isolierstation und ich durfte von unserem Grundstück auf dem Land, 120 km entfernt, nicht weg. Ich hätte es auch kräftemäßig nicht geschafft. So war er alleine gestorben.
Auch wenn der Verstand sagte, du konntest nicht zu ihm, war das Empfinden anders. Dieses meinte, ich hätte bei meinem Mann sein sollen. Ich musste etwas tun, um mir selbst verzeihen zu können. Und so begab ich mich auf einen Weg, für den ich sonst wohl nie den Mut gehabt hätte. Ich nahm Gesangsunterricht, schrieb aus meinen Wortfetzen Texte, gründete ein Musiklabel und produzierte eine CD für meinen Mann, in der ich all meinen Gefühlen Ausdruck verlieh. Musik koppelt Worte noch intensiver an Gefühle. Die erste Zeit liefen Tränen und die Stimme versagte beim Singen. Dazu kam, dass ich absolut keine Ahnung von der Musikbranche hatte. Ich musste mir alles erfragen, anlesen, irgendwie aneignen. Es war ein langer beschwerlicher Weg und ich hatte gegen Ende das Gefühl, meinen ganz persönlichen Jacobsweg zu gehen. Im Jahr 2006, nach 6 Jahren, hatte ich endlich die CD „Geschichten einer Liebe“ in der Hand. Sie war unter extremen Bedingungen mit dem Einsatz meiner letzten Kräfte produziert.

Auch von außen wurde ich dazu gedrängt, meine Gefühle in Worte zu fassen. Es bestand ein großes Interesse der Medien, dem ich mich nicht völlig entziehen konnte. Als mein Mann im Virchow-Klinikum lag, wurde mein Haus von Kamerateams regelrecht belagert. Nach seinem Tod, gab es Vermutungen und Spekulationen, die mich verletzten, weil Menschen, die ihn nicht kannten, ihm eine Verwechslung unterstellten. So ging ich vor die Kamera, um das klarstellen zu können. Das kostete mich alles sehr viel Kraft, doch jetzt weiß ich, dass es auch eine gute Seite hatte. Ich war gezwungen hin zu schauen und mich mit meiner Situation und meinen Gefühlen auseinanderzusetzen. Es gab noch genug, das ich vorerst verdrängte.
2005 wurde ich gefragt, ob ich an einem Buch** über Verlustverarbeitung mitwirken wolle. Ich hatte Connie Palmens Buch über ihre große Liebe Ischa Meijer und dessen Tod gelesen. Es war für mich tröstlich, zu wissen, mit diesem Schmerz nicht alleine zu sein. Meine Geschichte würde vielleicht anderen helfen können. Ich sagte zu.
Es sind nur 19 Seiten, die unter Tränen, seelischen und körperlichen Schmerzen geschrieben wurden. Ich hatte mich in ein kleines Hotel im Spreewald zurückgezogen, um ungestört zu sein. Nach 5 Tagen musste ich abbrechen, da mein Körper völlig verspannt war, ich unter starken Kopfschmerzen und Übelkeit litt. Nach einer Ruhepause schrieb ich weiter. Es war ein Teil Aufarbeitung und ich glaube, es war die Initiation für meine schriftstellerische Arbeit.
Jetzt nach fast 16 Jahren, in denen es immer wieder Phasen der Aufarbeitung gab, habe ich begonnen, die ganze Geschichte zu schreiben. Ich brauchte die Zeit, um mit Abstand auf die Geschehnisse schauen zu können. Doch nun werde ich auch das, was ich bisher im Verborgenen hielt in Worte fassen.
Und es wird nicht nur Trauriges geben, sondern auch Spannendes und Liebevolles.

Ein Liedtext von meiner CD „Geschichten einer Liebe“

Es geht weiter

Fühle meine Kräfte schwinden –
kann nicht mehr – will nicht mehr.
Möcht mich einfach fallen lassen –
aber keiner ist da, der mich fängt.

Schwarze Locken – oftmals viel zu kurz –
hab sie geliebt – hab dich geliebt.
Das Leben geht weiter – einfach so –
es fragt nicht nach Schmerz – fragt es nicht.

Fühl mich so leer – alles ist taub – halt mich in deinen Armen –
lass mich deinen Herzschlag spüren.
Fühl mich so leer – alles ist taub – halt mich in deinen Armen –
will in deinen Blicken versinken.

Nie wieder meine Spuren von Deiner Brille putzen.
Nie wieder Deine Geschichten hören.
Nie wieder bangend auf Dich warten.
Nie wieder deine Hände spüren.

Fühl mich so leer – alles ist taub – halt mich in deinen Armen –
lass mich deinen Herzschlag spüren.
Fühl mich so leer – alles ist taub – halt mich in deinen Armen –
will in deinen Blicken versinken.

Vorbei – doch ich leb weiter – und ich mach was draus –
für dich und mich – und alle, die denken, dass es keine Hoffnung gibt.

Fühl Kraft in mir – kann Berge versetzen – spüre deinen Willen –
führe deinen Herzschlag fort.
Fühl Kraft in mir – kann Berge versetzen – spüre deinen Willen –
deinen letzten Blick vergess ich nie.
*Im August 1999 starb mein Mann nach einem gemeinsamen Arbeitsaufenthalt in Westafrika an Gelbfieber.

**„Stärker als je zuvor“ von Heike Reuther, Ullstein Buchverlage