Wie ein Wachkomapatient mir half, mich zu erinnern

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Vor zwei Tagen besuchte ich einen Freund. Ich sage Freund, auch wenn wir uns nur wenige Male gesehen und gesprochen hatten. Mit manchen Menschen fühlt man sich sehr schnell verbunden, weil sie gleiche Ziele, Ansichten, Wertevorstellungen haben. Jedenfalls war ich ihn besuchen und das hat mich so sehr berührt, dass ich jetzt weiß, was ich in meinem Blog schreiben werde: Geschichten – über Menschen, über das was sie im Alltag erleben, fühlen, verkraften, leisten – über das, was sie antreibt, was bei ihnen Veränderung, Entwicklung bewirkt.

Das letzte Mal, als ich meinen Freund Frank sah, war er ein großer, agiler Mann. Er war voller Energie und Enthusiasmus dabei, sich und seiner Familie eine neue Existenz aufzubauen. Ich wollte von ihm einen Rat zu einem Thema, das mich bewegte und den bekam ich auch. Nun, etwa 2 Jahre später durchquere ich einen Hinterhof, gehe in einen erleuchteten Hausflur und steige die Treppe zur ersten Etage hinauf. An der Tür steht „Lebensmut“. Ich solle einfach die Tür aufdrücken, hatte mir Franks Frau Petra geschrieben. Das Zimmer geradeaus wäre seins.
Die Lebensmut-Tür gibt leicht nach und ich stehe am Anfang eines U-förmigen schmalen Ganges. So hatte ich mir ein Pflegeheim nicht vorgestellt, aber ich bin angenehm überrascht. Für mich hat es etwas von einer großen WG. Wenige Schritte vor mir ist die Zimmertür weit geöffnet. Ich sehe einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen, dahinter eine Sitzbank. Der Rollstuhl neben dem Tisch ist leer. Vom anderen Ende des Ganges höre ich Wasser plätschern und Stimmen. Ich warte, ob vielleicht ein Pfleger kommt. Als mir das zu lange dauert traue ich mich, in das offene Zimmer hinein zu schauen.
Da liegt ein Mann in einem breiten Bett mit Geländer. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen. Es ist von mir abgewannt. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartet. Ich wusste von Petra nur, dass ihr Mann im Wachkoma liegt. Noch nie hatte ich einen Menschen in diesem Zustand gesehen.

Als ich meinen Vater das letzte Mal besuchte, lag er im Koma. Sein Körper sah ganz entspannt aus und die Augen waren geschlossen, als würde er schlafen. Als ich ihm von meinem erfolgreichen Auftritt zur Abschlussveranstaltung eines Workshops an der Stage School in Hamburg erzählte, kullerten zwei Tränchen aus seinen Augen. Das war alles ganz friedlich und trotz der traurigen Umstände irgendwie schön. Seine Reaktion zeigte mir, dass er mich gehört hatte und ich glaube es waren Freudentränchen.

Vor mir liegt ein gekrümmter Körper an Plastikschläuchen, die Augen geöffnet, aber der Blick ist starr. Die Hände sind spastisch verkrampft, Gesicht und Haare verschwitzt. Ich bin mir nicht sicher, ob das Frank ist. Es ist bereits dämmrig. Das Licht möchte ich nicht anschalten. Es würde den Menschen vor mir bestimmt blenden. Ich schaue genauer hin. Doch, das muss er sein. Ich denke an Petra. Wie mag es ihr gehen, wenn sie ihren Mann so sieht? Ich habe einige Male mit ihr telefoniert. Ihre Stimme hörte sich zart und zerbrechlich an, aber sie machte immer einen sehr gefassten Eindruck. Ich bewundere die Stärke dieser Frau.

Ich lese Frank Märchen vor und ein paar Seiten von Clemens Kubys Geschichte über dessen Heilung von einer Querschnittslähmung. Frank reagiert, schließt eine Weile die Augen, öffnet sie wieder. Das Weiß der Augäpfel rötet sich. Es sieht aus, als wollen Tränen fließen, aber das schimmernde Nass versiegt, bevor es überfließen kann. Zwei oder drei Mal ringt sein Körper einen Seufzer hervor. Einmal sieht es so aus, als ob er etwas sagen will. Die Mimik seines Gesichts verrät große Anstrengung, doch als er den Mund öffnet, läuft nur Speichel heraus. Ich habe das Gefühl ein kleines Kind vor mir zu haben, wische den Speichel ab. Ich glaube, ich fühle gerade, was in etwa Mütter behinderten Kindern fühlen. Irgendwie muss diese Hilflosigkeit bei Frauen so etwas wie einen Reflex für Zuwendung und Fürsorge auslösen, ein warmes Gefühl der Liebe.

Zu gerne würde ich wissen, was bei Frank ankommt und wie er das wahrnimmt. Auf jeden Fall bin ich davon überzeugt, dass er mich hört. Und ich glaube daran, dass sich sein Zustand bessern wird, will es glauben. Ich denke darüber nach, wie es wohl sein mag, in einem Körper gefangen zu sein, der nicht mehr richtig funktioniert, der wie ein Käfig ist. Diese Seele hatte definitiv den Körper schon verlassen. Frank wurde eine Stunde lang reanimiert. Was hat sie dazu gebracht nach dieser langen Zeit wieder zurück zu kehren? Das muss doch einen Sinn haben! Ich sage das Frank und bitte ihn zu kämpfen. Der menschliche Körper ist ein Wunderwerk und erschafft sich ständig neu. Da geht noch was.
Clemens Kuby sagten die Ärzte, er würde den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen. Er ignorierte das, wollte wieder gesund werden. Ich habe ihn 2008 mit eigenen Augen ganz normal auf der Bühne herumlaufen gesehen.

Auf dem Heimweg beschäftigt mich die Frage, warum dieses Herz einfach stehen blieb. Lebte Frank so sehr an ihm vorbei? Selbständig zu sein oder alleine ein Geschäft, eine neue Existenz aufzubauen, fordert sehr. Ich bin auch erst vor kurzem auf die Bremse getreten. Ich habe gearbeitet, auch am Wochenende, auch am Abend, keinen Urlaub gemacht. Mein Leben bestand fast nur noch aus arbeiten, schlafen, essen, bis ich mich fragte, was ich da eigentlich treibe. Jeder Mensch in einem Anstellungsverhältnis hatte einen Feierabend, freie Tage. Ich dachte an die Zeit vor meiner Selbständigkeit zurück. Da fand ich Zeit zum Stricken, Nähen, Treffen mit Freunden, …
Seit ich selbständig war und alleine lebte, musste immer etwas erledigt, abgearbeitet, noch erreicht werden. Die Tage waren einfach zu kurz. Halt! Da stimmte etwas nicht! Ich erkannte, dass ich selbst mir die Erlaubnis geben musste, Feierabend zu machen. Ich selbst musste mir Zeit geben, um abzuschalten, aufzutanken. Ich musste lernen liebevoll mit mir umzugehen. Ich hatte es gerade mal wieder vergessen, aber Frank erinnerte mich daran. Er wird mich ab jetzt immer erinnern, dass ich ein Herz und einen Körper habe, die Zuwendung und Erholung brauchen.

Ich werde mir Zeit nehmen, Frank weiter zu besuchen, ihm vorzulesen und zu erzählen. Ich schenke diese Zeit mir und ihm. Ich denke Zuwendung ist für ihn ganz wichtig und kann Besserung bewirken. Für mich sind diese Stunden aufbauend, denn Helfen macht glücklich. Auch Petra kann ich damit unterstützen. Sie ist bis zu zwei Stunden unterwegs, um ihren Mann zu besuchen und zurück noch einmal so lange. Bald werde ich sie persönlich kennen lernen. Darauf freue ich mich und ich bin sehr gespannt.

Hinweis: Die Namen wurden geändert.
Literaturempfehlung:
Clemens Kuby, Unterwegs in die nächste Dimension, Goldmann Verlag