Vom Suchen und Finden

Ich lernte Anja Zawadzki (33) über Facebook kennen. Die junge Frau interessierte mich. Ich spürte den starken Willen, voranzugehen und zugleich Unsicherheit, die wohl aus fehlender Klarheit über ihren Weg resultierte. Ich glaube, es sind viele ebenso auf der Suche und es könnte für sie interessant sein, darüber zu lesen. So fragte ich Anja, ob sie mit einem Interview einverstanden wäre. Sie sagte zu.

Anja, was ist Dein Beruf?
Ach schon die schwerste Frage. Ich bin selbständig als Ernährungsberaterin und Entspannungstherapeutin. Wobei ich nebenbei auch noch Kleinkinder betreue, so wie sich das zeitlich fügt und sich stimmig anfühlt.

Machst Du das schon immer?
Ich habe ganz klassisch einen Beruf gelernt und zwar Hotelfachfrau. Mir war aber während der Lehre schon klar, dass ich den Beruf nicht weiter ausführen wollte. Ich war ja erst 19 als ich mit der Lehre fertig war. Es war damals eine schwere Zeit für mich. Ich hatte viel mit Mobbing zu tun. Das
hat mich sehr geprägt. Ich war mit 16 zu Hause ausgezogen, also neuer Start, neues Umfeld. Ich musste plötzlich auf Menschen zugehen und hatte das Gefühl, dazu noch gar nicht richtig bereit zu sein. Dazu kam, dass ich in einem Dorf aufwuchs und nun in der Stadt zwischen vielen Menschen lebte. In meinem letzten Ausbildungsjahr veränderte sich sehr viel. So wandte ich mich von Freunden ab, weil ich ihre Freundschaft als sehr oberflächlich empfand und mich den Regeln der Klicke nicht mehr unterordnen wollte. Ich war jemand, der mehr am Rand steht, als im Mittelpunkt. Ich fand dann zunehmend zu meiner Kreativität und stellte die Lehre immer mehr in Frage. Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich das überhaupt machen will, aber die Frage nach einer Alternative gab es nicht. Meine Eltern haben da den Ton angegeben, so dass ich mich irgendwie fügen musste.

Du hast gesagt, dass Du viel mit Mobbing zu tun hattest. Gab es auch schon in Deiner Schulzeit diesbezüglich Probleme?
Ja, ab und zu, weil ich von meiner Art und Weise etwas anders war. Dazu kam, dass meine Eltern mich nicht viel raus gelassen haben. Wenn z.B. andere ins Schwimmbad gefahren sind, war das für mich ein Krampf zu fragen, ob ich mit darf. Ich habe sehr viele „nein“ erfahren, wodurch ich Angst entwickelte, zu fragen. Meine Mutter hatte zu Hause kaum etwas zu sagen. Es ging alles über meinen Vater. Und wenn der „nein“ gesagt hatte, was meistens der Fall war, war mir das peinlich. Ich habe mir dann Ausreden ausgedacht, warum ich nicht mit kann, oder gab an, selbst keine Lust zu haben. Wenn ich nicht dabei war, konnte ich nicht mitreden, stand also irgendwie immer im Außen. Da lassen sich die anderen dann eben darüber aus. Auch gab es Streitereien, wer die beste Freundin von wem ist. Ich hatte immer das Gefühl, um eine Person kämpfen oder mich verstellen zu müssen, um irgendwo Anklang zu finden. Am Ende der Schulzeit bin ich da nicht mehr mitgegangen. Ich wollte schon irgendwo Anschluss finden, aber bemerkte, dass es so nicht mehr weiter gehen konnte. Ich war sehr enttäuscht, wie das alles lief und habe mich dann den Außenseitern angeschlossen. Die waren außerdem kreativer.

Wie hast Du es geschafft, aus der Angst vor einem „nein“ und vor Ablehnung herauszukommen?
Nach meiner Lehre wohnte ich ein dreiviertel Jahr bei meinen Eltern. Das ging gar nicht gut. Ich musste da weg. So habe ich die letzten Wochen bei meinem Bruder in der nächstgrößeren Stadt gewohnt, von wo aus ich mir einfach irgend einen Job in Berlin suchte. Das lief anfangs auch nicht optimal. Besser wurde es erst etwa 4 Jahre später, als ich eine Therapie anfing. Bei dieser ging es um die Aufarbeitung der Vergangenheit. Zu der Therapie entschloss ich mich ja erst, als es mir wirklich schlecht ging, ich keinen Ausweg mehr sah. Ich hatte viele Nervenzusammenbrüche, war total emotional und konnte mein Leben nicht mehr verstehen. Zeitweise litt ich unter Reizüberflutung und weinte viel. Ich habe öfters gekündigt, weil irgendetwas war, was mich nervte oder unzufrieden machte. Zu dieser Zeit arbeitete ich wegen Personalmangels teilweise 14 bis 20 Tage hintereinander. Ich bekam Schlafprobleme, konnte nicht mehr still sitzen und war total fertig. Das ging so weit, dass ich morgens nicht mehr aufstehen konnte. Mir wurde klar, dass es so nicht mehr weiter gehen kann, ich mir Hilfe suchen muss. Ich ging zu meiner Hausärztin, um mich krank schreiben zu lassen, doch nach einem längeren Gespräch verließ ich die Praxis mit einer Überweisung. Ich war dann ein dreiviertel Jahr in Therapie. Das war auch nicht leicht, aber ich wusste, wenn ich mich da nicht öffne und mitmache, habe ich keine Chance. Nach der Therapie hatte ich das Gefühl, als wäre ein riesengroßer Schleier von mir genommen. Es musste auch eine äußerliche Veränderung her. Meine Kleidung war vorher überwiegend Schwarz. Das mochte ich nun nicht mehr und meine dunklen Möbel lackierte ich alle hell. Meine Wohnung, die total verbaut war, die Schränke standen fast vor dem Fenster, weil ich mich total eingeigelt hatte, räumte ich um. Je mehr Fortschritte ich machte, um so heller wurde es in der Wohnung. Nach der Therapie konnte ich das Zusammenwirken der Bereiche Partnerschaft und Beruf verstehen. Wenn ein Bereich nicht funktioniert, muss der andere diesen Bereich quasi mit stützen. Und wenn beide Bereiche nicht funktionieren, dann ist halt nichts mehr da, worauf man sich irgendwie stützen kann. Das hat ganz viel in meinem Denken bewirkt, so dass ich nicht mehr so negativ war und damit auch mein Ängste loslassen konnte.

War es für Dich dann einfacher, auf Leute zuzugehen?
Ja. Meine Wahrnehmung hatte sich verändert. Vorher hatte ich Gedanken wie, die anderen fügen einem immer nur Leid zu oder man kann sich auf niemanden verlassen, man wird am Ende immer enttäuscht. Und nun war ich neugierig und hatte einfach Lust, auf andere zuzugehen. Dadurch kam ich mehr raus und unter Leute. Ich bemerkte, dass ich mit einigen Menschen keinen Kontakt mehr haben wollte. Ich befasste mich dann auch damit, wo überhaupt meine Interessen liegen und ob ich darüber Menschen kennenlernen kann.

Wann war für Dich endgültig klar, dass Du nicht den richtigen Beruf gelernt hast?
Ich glaube der erste Impuls kam, als ich noch ganz normal im Angestelltenverhältnis war, im Verkauf. Damals hatte ich ein Fernstudium angefangen. Ich wollte lernen, wie man Bücher schreibt. Das war ein Kindheitstraum von mir. Ich hatte immer sehr viel gelesen und dachte, dass da vielleicht meine Zukunft liegen könnte. Dann, ca. zwei Jahren später, hatte ich das Gefühl, dass es schade ist, sich den ganzen Tag in Räumen aufhalten zu müssen. Ich vermisste die Sonne, den Aufenthalt im Freien. Im Winter steht man im Dunkeln auf und kommt im Dunkeln nach Hause. Ich dachte, muss das wirklich so sein oder geht es auch anders? Dann kam auch das Gefühl, dass ich meine Zeit verschwende, dass das nicht mein Leben ist. So fand ich zum Onlinebusiness, bei dem man orts- und zeitunabhängig arbeiten kann. Das fand ich total interessant und dachte, dass ich die Sachen, die ich gerne mache, ja irgendwann auch zum Beruf machen kann. Da waren natürlich noch ganz viele Ängste dabei.

Wie bist Du zur Ernährungsberatung gekommen?
In der Zeit, als ich die Schlafstörungen hatte, ging es mir auch körperlich sehr schlecht. Ich habe wohl auch aus emotionalen Gründen viel Müll, wie Fastfood, gegessen. Als ich merkte, dass es meine Energie raubt, mich runterzieht, ich hatte zu der Zeit auch Allergien, habe ich mein
Essverhalten hinterfragt und mich intensiv mit dem Thema befasst. Dadurch war ich schon so sehr in dem Thema, dass es naheliegend war, beruflich in diese Richtung zu gehen und habe eine Ausbildung als Ernährungsberaterin gemacht.

Bist Du mit der Ernährungsberatung in die Selbständigkeit gestartet?
Nein, ich bin erstmal in die Arbeitslosigkeit gegangen, habe aber gleich angegeben, dass ich mich selbständig machen will. Für mich war klar, dass ich eine Pause brauche, um von meinem Stresslevel runter zu kommen. Und ich wollte erst alles genau durchdenken, wie ich es angehen und umsetzen kann. Ich habe einen Businessplan geschrieben und bin über das Jobcenter in die Selbständigkeit gestartet. Ich merkte, dass es gar nicht so einfach ist, mit der Selbständigkeit. Es dauerte ca. ein Jahr, bis ich mich traute, völlig autark zu arbeiten. Am Anfang lief alles nicht so, wie gedacht und geplant. Es war finanziell echt eine Herausforderung. Mit Hilfe meines damaligen Freundes konnte ich dann auch ein Onlinebusiness beginnen.

Worin besteht Dein Onlinebusiness?
Ich habe einige E-Books zum Thema Entgiftung des Körpers geschrieben, die ich verkaufe. Pflanzen, speziell Kräuter und Alternativmedizin interessieren mich sehr. Vor ca. vier Jahren fing ich an, Kräuter zu sammeln und biete auch geführte Kräuterwanderungen an.

Du hast eine sehr schöne Haut. Hast Du die schon immer oder erst seit Du Dein Wissen bei Dir selbst anwendest?
In der Tat hatte ich früher Hautprobleme. Ich habe auf einige chemische Sachen in Pflegeprodukten reagiert. Und ich bemerkte, dass meine Haut auf stark verarbeitete Nahrung reagiert. Das war Anlass, mich mit vegetarischer und veganer Ernährung zu befassen. So ernähre ich mich jetzt überwiegend vegan und meiner Haut geht es gut. Heute habe ich ein ganzheitliches Denken und würde sagen, dass nicht ausschließlich meine Ernährung für meine bessere Haut und mein körperlich besseres Befinden verantwortlich sind. Durch eine weitere Ausbildung im Gesichter lesen, habe ich verstanden, dass körperliche Probleme auch einen seelischen Hintergrund haben.

Wo stehst Du jetzt und hast Du eine Vision, wohin Du willst?
Ich möchte für die Ausbildungen, die ich gemacht habe, ein Gesamtkonzept finden und das Thema Spiritualität einbeziehen. Ich denke, dass jeder, ob bewusst oder unbewusst, auf der Suche ist. Ich habe das Gefühl, dass ich viel bewirken kann. Ich kann jetzt nicht sagen, ich werde mal das und das machen, aber ich weiß, wenn ich im Vertrauen bin und meinen Weg gehe, dann wird sich das schon fügen. Ich halte es auch nicht für richtig, zu sagen, das mache ich jetzt für immer und ewig. Es gibt ja ständig Entwicklung und ich kann mir vorstellen, dass ich irgendwann das Thema Ernährung gar nicht mehr beruflich mit einbeziehe, weil es einfach Themen gibt, die ich für wichtiger halte. Ich denke viele Menschen gehen gerade am Anfang eher über den Körper, als dass sie etwas in ihrer Denkweise verändern wollen. Ich habe die Vision, nicht mehr lange in Berlin zu sein, da es mich immer mehr in die Natur raus treibt. Ich sehe mich im Ausland zusammen mit einem Partner ein großes Heilungszentrum eröffnen oder etwas kleiner für den Anfang, dass ich separate Räumlichkeiten habe, wo ich auch viel mehr mit den Menschen arbeiten kann. Es werden auf jeden Fall die Themen Ernährung, Entspannung und Persönlichkeitsentwicklung und Kreativität mit einfließen. Ich möchte auch einen Garten zur Selbstversorgung haben.

Glaubst Du an Zufälle?
Nein, ich bin davon überzeugt, dass nichts ein Zufall ist.

Warum willst Du ins Ausland?
Das ist mehr privater Natur und hängt mit meinem Wohlgefühl zusammen. Ich fühle mich schon immer mehr zu den südlichen, warmen Ländern hingezogen. Für mich fühlt sich Deutschland, als Ort zum Leben nicht stimmig an.

Was würdest Du gerne mal gefragt werden?
Hm – weiß ich gar nicht. Da fällt mir spontan gar nichts ein.

Gibt es etwas, was Du gerne noch sagen würdest?
Ja, dass die Außenwelt der eigene Spiegel ist, dass das was man anzieht, damit zusammenhängt, wie man selbst im inneren ist. Als ich damals in meiner Opferrolle war, habe ich natürlich bestätigt bekommen, dass alles Mist ist, dass mich alle ausnutzen, dass ich immer Leid erfahre, dass ich
immer enttäuscht werde. Aber als ich anfing anders zu denken, mir selbst mehr wert war, habe ich andere Menschen angezogen. Ich war viel in meinem Leid, viel in der Opferrolle bis ich erkannte, dass ich selbstbestimmt leben kann.

Seit diesem Interview sind vier Monate vergangen. Ich war gespannt, ob es seit dem zu Veränderungen in Anjas Blick auf ihren weiteren Berufsweg gekommen ist und fragte nach.

Anja, sind Deine Prioritäten bezüglich beruflicher Laufbahn gleich geblieben oder hat sich etwas verändert?
Es hat sich in dieser verhältnismäßig kurzen Zeit bei mir viel bewegt. Bei dem ganzheitlichen Konzept bin ich geblieben, wobei die Ernährungsberatung in den Hintergrund treten wird. Das zeichnete sich ja bereits ab. Ich will mehr in Richtung Spiritualität gehen. Herzöffnung und
Seelenberührung sind mir wichtige Themen. Ich will Menschen daran erinnern, warum sie hier sind, dass sie nicht im Leid sein müssen, sondern glücklich leben können.

Foto: Weltenreich Photography

Hier geht es zur HP von Anja Zawadzki

Das Blumenmädchen

 

Bereits 2012 schrieb ich „Das Blumenmädchen“. Seit dem lag es, zusammen mit anderen Märchen, in der Schublade, um irgendwann in einem, meinem Märchenbuch veröffentlicht zu werden. Doch nun erhielt ich den Impuls, es loszulassen, so dass es seine Leser finden kann. Es ist wie mit geliebten Kindern. Auch die muss man eines Tages frei geben. Ich wünsche Euch viel Freude beim Lesen.

 

DAS BLUMENMÄDCHEN – ein Märchen von Kordula Ullmann

Es war einmal ein Blumenmädchen Namens Rosalie, das lebte in einem kleinen Häuschen inmitten eines großen Gartens. In dem Garten wuchsen wunderschöne Blumen in allen Farben, die sich wohl nur die Natur ausdenken kann. Jeden Morgen ging Rosalie in den Garten, begrüßte die Blumen, wählte einige von ihnen aus und band sie zu prächtigen Sträußen. Diese brachte sie auf den Markt. Es dauerte nicht lange und sie hatte alle Sträuße verkauft. Von dem Erlös konnte sie bescheiden, aber gut leben. Eines Tages, mitten im Sommer, in der schönsten Blumenzeit, zog ein schweres Unwetter über das Land. Regen und Sturm verwüsteten den Garten. Sie rissen die Blätter der Rosenblüten aus, knickten die Stängel der Sonnenblumen, spülten Wurzeln aus der Erde und bedeckten alle Blumen mit Schlamm. Der ehemals farbenprächtige Garten sah braun und trostlos aus. Rosalie war verzweifelt und weinte sieben Tage und sieben Nächte lang dicke Tränen. Nicht nur, dass ihr die Blumen fehlten, sie wusste auch nicht, wie sie weiter leben, wovon sie sich ernähren sollte. Sie hatte zwar ein paar Ersparnisse, aber die würden nicht lange reichen. Das Leben schien nicht mehr lebenswert. Ihre Angst lähmte sie, dass sie nicht im Stande war irgendetwas zu tun. Als ihr das bewusst wurde, erschrak sie sehr. Das war nicht mehr sie, die lebensfrohe Rosalie! Sie wollte aus dieser Lähmung heraus, nur wusste sie nicht wie.
Da hörte sie von einem Zauberer, der im Nachbarort leben sollte. Ihr Entschluss stand fest. Sie würde den Zauberer um Hilfe bitten. Am nächsten Tag machte sie sich in aller Frühe auf den Weg. Sie musste einige Stunden laufen. Zur Mittagszeit erreichte sie endlich das Haus des Zauberers. Er saß auf einer Bank neben dem Eingang und erwartete sie bereits. Er war sehr groß und hager mit grauen Haaren und einem Gesicht, in welches das Leben seine Zeilen geschrieben hatte. Als Rosalie ihn begrüßte und sich vorstellte, wurden seine Gesichtszüge ganz weich und seine Augen leuchteten wie Aquamarine. Sie wollte ihm erzählen warum sie zu ihm gekommen war, doch er wusste bereits alles, denn er war ja ein Zauberer. Er nahm Rosalies Hand und führte sie einen Weg zwischen hohen Sträuchern hindurch. An einer Biegung wurde der Weg so schmal, dass sie hinter ihm gehen musste. Nachdem sie einige Zeit unterwegs waren, trat der Zauberer bei Seite, und vor ihnen tat sich eine Lichtung auf. Eine Wiese, so groß wie ein Marktplatz, war mit bunten Blumen übersät. Im Sonnenlicht tanzten Schmetterlinge und Libellen. An einer Wasserstelle lagen Rehe mit großen, schwarzen Knopfaugen und eine Hasenfamilie spielte ausgelassen vor ihrem Bau. In der Mitte der Lichtung stand ein riesiger Baum in dem die verschiedensten Vögel wohnten. Alles strahlte Frieden und Lebensfreude aus. Der Zauberer nahm Rosalie wieder an der Hand und führte sie zum Baum: „Liebe Rosalie, dies ist ein besonderer Baum. In seinen Wurzeln ist alles Wissen des Lebens gespeichert. Lege dich unter seine Krone und schließe die Augen.“ Rosalie fand den Gedanken, unter diesem großen, starken Baum zu liegen, sehr angenehm und suchte sich eine von Moos gepolsterte Stelle aus. Hier lag sie wie in einem weichen Bett und als sie die Augen geschlossen hatte, verlor ihr Körper jegliche Schwere. Auch ihre bedrückenden Gedanken verloren an Gewicht und schwebten auf einem Lichtstrahl davon. Bald konnte sie nicht mehr unterscheiden, ob sie wachte oder träumte. Sie sah sich in ihrem Garten stehen und überall brachen frischgrüne Keime durch die Erde. Sie konnte zuschauen, wie es um sie herum grünte und zu blühen begann. Sie lief durch ihren Garten und überall reckten sich ihr Blütenkelche entgegen und verzauberten sie mit ihrem Duft. Schmetterlinge gaukelten vor ihrer Nase herum und dicke Hummeln flogen von Blüte zu Blüte. Ein Schmetterling setzte sich auf ihre linke Schulter und rüttelte sie sanft: „Rosalie, aufwachen.“ Vorsichtig öffnete sie ihre Augen einen kleinen Spalt und schaute in das freundliche Gesicht des Zauberers. Sie musste eingeschlafen sein. Jedenfalls fühlte sie sich frisch und munter. Und sie empfand eine Kraft in sich, die sie noch nie so wahrgenommen hatte. Rosalie war es wohl unter dem Baum auf der Lichtung, doch Irgendetwas in ihr drängte sie nach Hause. Eine innere Stimme sagte ihr, dass alles gut werden würde. Wieso war sie nur vorher so niedergeschlagen? Sie hatte doch alles, was sie brauchte. Sie war gesund, hatte ihr Häuschen, fruchtbare Erde und alles Andere würde schon werden.
Der Zauberer lächelte und gebot ihr, aufzustehen, die Augen zu schließen und erst wieder zu öffnen, wenn sie Vogelgezwitscher hören würde. Sie tat wie ihr geheißen. Der Zauberer berührte ihre Stirn und sagte: „Der große Geist dieses Baumes sei mit dir. Lebe wohl Rosalie.“ Für einen Moment wurde es ganz ruhig, dann hörte sie Vogelgezwitscher. Sie öffnete die Augen und konnte es kaum glauben. Sie stand in ihrem Garten. Voller Freude nahm Rosalie einen Spaten und fing an umzugraben. Da kamen Wildschweine aus dem nahe gelegenen Wald und halfen ihr die Erde zu lockern. Kaum waren diese fertig, setzte sich ein Schwarm Nebelkrähen auf die Krume und scharrte die Erde der Beete glatt. Rosalie bedankte sich bei den Tieren für die Hilfe und überlegte wo sie nun Sämereien herbekommen könne. Da kamen aus allen Himmelsrichtungen Vögel geflogen. Jeder hatte ein bis zwei Samen im Schnabel, die er in die Erde pickte. Der Wind wollte nicht nachstehen und legte noch einige dazu. Rosalie fühlte sich glücklich und sang ein Dankeslied. Da fiel ein leichter Nieselregen. Die Sonne sendete dazu ihre wärmenden Strahlen in den Garten. Es dauerte nicht lange und zartgrüne Spitzen schauten aus der Erde. Diese wuchsen zu prächtigen Blumen mit Blüten von ungeahnter Schönheit. In der Mitte des Gartens wurde eine Blume höher als die anderen. Bald konnte Rosalie sehen, dass dies keine Blume war. Dort wuchs ein Baum, genau wie auf der Wiese des Zauberers.
Nun sah man Rosalie wieder jeden Tag mit den wundervollsten Blumensträußen auf dem Markt stehen. Und jeder, der Rosalie sah, kaufte einen Strauß, schon wegen ihres Lächelns und natürlich wegen der wunderschönen Blumen. Wer solch einen Strauß trug, fühlte Ruhe und Frieden in sich und nahm diese mit in sein Haus oder zu den Lieben, denen er diesen Strauß schenkte.
Rosalie lebte glücklich und zufrieden bis ihre Zeit vorüber war. Man erzählt, sie hätte sich unter den großen Baum in ihrem Garten gelegt und wäre dann nie mehr gesehen worden. Der Baum aber, trug von da an immer eine Rosenblüte.

Er empfindet!

Schönheit am Wegrand

 

Heute war ich wieder bei Frank und wurde zutiefst berührt und erschüttert.
Dieses Mal lag er mit dem Gesicht der Tür zugewandt. Die Sonne schien in sein Gesicht und ließ das Blau seiner starr geradeaus blickenden Augen durchsichtig erscheinen. Doch einen Blick in seine Seele gaben sie nicht frei. Oder konnte ich es nur nicht sehen? Ich begrüßte ihn. Seine Augen blickten ins Leere.

Ich hatte gelesen, dass Menschen im Wachkoma auf Tiere reagieren und Pferde für Therapiezwecke eingesetzt werden. Ein Pferd hierher mitzunehmen, wäre sicher etwas schwierig, aber ich habe einen kleinen, sehr lieben Hund Arno, und der war heute mit. Ich hob ihn hoch, in die Nähe von Franks Gesicht. Frank reagierte. Sein Mund versuchte Worte zu formen. Sie blieben tonlos, aber er bemühte sich immer wieder – und da – eine kaum zu bemerkende Bewegung seiner Augen zu Arno hin. Mein Herz machte einen kleinen Freudenhüpfer. Welches Gewicht doch Kleinigkeiten manchmal haben und vor allem, wie viel Freude und Hoffnung sie geben können!

Dann las ich Frank eines meiner Märchen vor, in dem ich über Metaphern aus der Pflanzenwelt von zwei Liebenden erzähle. Es geht um Trennung, alleine sein, Wachstum und wieder finden. Er muss diesen Inhalt verstanden haben, den er reagierte unterschiedlich auf verschiedene Textstellen. Seine Augen füllten sich mit Tränen und dieses Mal versiegten diese nicht. Sie übertraten die Schwellen und liefen ins Freie.

Als Nächstes hatte ich Texte aus Paulo Coelhos „Handbuch des Kriegers des Lichts“ ausgewählt.
Ich las: „Ein Krieger des Lichts bekommt im Leben immer eine zweite Chance. Wie alle anderen Menschen auch, weiß ein Krieger am Anfang seines Lebens nicht, wohin sein Weg ihn führen wird. Oftmals hat er den falschen Weg eingeschlagen, ehe er herausfindet, welches der Traum ist, den er in seinem Leben verwirklichen muss….“

Ich traute meinen Augen kaum. Der im Wachkoma vor mir liegende Mensch, von dem ich nicht wusste, was er wahrnimmt, ob er etwas empfindet, war völlig aufgewühlt. Er hob den Kopf, einem tiefen Atemzug folgte ein leises Stöhnen, die Lippen formten tonlose Worte und er weinte, seine ganze Mimik weinte. Die Tränen flossen über seine Wangen und tropften auf Hände, die sie nicht abwischen konnte. Jetzt wusste ich, Frank konnte verstehen, fühlen. Welcher Schmerz musste in diesem Körper gefangen sein! Er konnte ihn nicht hinausschreien, sich niemandem mitteilen. Auch meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich mag gar nicht daran denken, wie es sich wohl anfühlt, wenn man plötzlich mitten aus dem Leben gerissen wird, weg von Familie und Freunden.
Ich habe selbst erfahren, wie schnell sich eine Lebenssituation ändern kann, als mein Mann starb. Keiner weiß, wie lange er sich bei guter Gesundheit des Lebens erfreuen kann. Wie oft gehen wir achtlos mit unserer Lebenszeit um, verschieben Dinge, die wir gerne tun würden auf später, jagen der Kariere hinterher und vergessen darüber die Familie, sagen einem Menschen nicht, was er uns bedeutet, erfreuen uns nicht an Blüten am Wegrand, …!

Frank kann nicht sprechen, aber er kann uns so viel lehren, uns wach rütteln.

 

Zum besseren Verständnis kannst Du den vorhergehenden Beitrag „Wie ein Wachkomapatient mir half, mich zu erinnern“ lesen.
Auf das angekündigte Interview mit Franks Frau Karin gedulde Dich bitte noch ein wenig. Es erfordert Kraft über Schmerzliches zu reden, und so ist es ihre Entscheidung, wann sie bereit ist, das zu tun.

Hinweis: Die Namen wurden geändert.

Buchempfehlung: Paulo Coelho, „Handbuch des Kriegers des Lichts“, Diogenes Verlag